Überlegungen aus Gesprächen in Venezuela

Lutz Brangsch, Januar 2006

 

1. Das Forum in Venezuela hat die aktuellen Probleme und Aufgaben der Bewegung und die Tragweite der Überschneidung von verschiedenen Prozessen deutlich gemacht. Vor allem betrifft das folgende Prozesse, die in dem hier interessierenden Raum Mittel- und Südamerika mit besonderer Schärfe in Erscheinung treten, aber durchaus die Qualität globaler Probleme aufweisen:

- die Finanzkrise des Öffentlichen und die entsprechenden Reaktionsmuster der internationalen Finanzoligarchie

- geopolitische Ambitionen der USA und anderer Großmächte

- Versuche der Monopolisierung von Ressourcen wie Wasser, der Bioressourcen und des mit ihnen verbundenen Wissens oder landwirtschaftlicher Böden (z.B. Genmanipulation und „Terminatortechnologie“, Wasserprivatisierung)

- neues Selbstbewusstsein aus der Notwendigkeit der Selbstbehauptung auf staatlicher wie auch gesellschaftlicher Ebene, in sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Dimension, die sich in den politischen Erfolgen Hugo Chavez in Venezuela und Evo Morales in Bolivien in bestimmten breiten Kreisen der Bevölkerung dieser Länder widerspiegelt.

2. Vor diesem Hintergrund stellen sich Grundfragen der Dialektik von Globalem und Regionalem neu. Die realen Gegensätze, an denen die genannten politischen Erfolge anknüpfen, zeigen zudem, wie wenig real die von Neoliberalen angeführten Glaubenssätzen einer angeblich unbegrenzten Mobilität sind. Der Fakt, dass Mensch eben nicht unbegrenzt zur Mobilität zu zwingen ist sind und das Rohstoffe und Ressourcen eben dort sich wo sie sind, wird zu einem nun offensichtlichen Kristallisationspunkt neuer Widersprüche und neuer regionaler und auch nationaler Entwicklungskonzepte.

3. Das Weltfinanzsystem ist nicht darauf orientiert, Schulden als zeitweilige Sache zu betrachten und sie bedienbar zu halten. Die Notwendigkeit, Schulden zu bezahlen und gleichzeitig die Lage im eigenen Land berechenbar zu halten, führt über kurz oder lang zu dem Versuch der Realisierung finanzieller Unabhängigkeit. Bedient ein Land die Schulden, oder wird es durch andere Länder in die Lage versetzt, die Schulden zu bezahlen, wird dies schon beinnah als feindlicher Akt betrachtet (Argentinien und Venezuela). Diese Verschuldungslogik erzwingt bei Regierungen, die aus welchen Gründen auch immer sich nicht der Rolle von Statthaltern sehen wollen, die Rückbesinnung auf interne Ressourcen, produziert damit die Wiederbelebung des Nationalstaates und produziert Selbsthilfe etc., die in Demokratisierungsforderungen umschlagen. Vor dem Hintergrund der sozialökonomischen und Eigentumsverhältnisse wird der bürgerliche Nationalstaat wieder belebt, allerdings mit einer anderen Kräftekonstellation:

-         die Gewerkschaften sind wie in den Ländern des Nordens geschwächt, Basisbewegung und indigene Bewegungen gewinnen auch politisch an Gewicht.

-         auf der staatlichen Ebene geht es um die Gewährleistung bürgerlicher Rechte, an der Basis um Formen direkter Demokratie, die an die bürgerlichen Rechte anknüpfen.

-         Der bürgerlich-kapitalistische Staat wird so auf neue Art wider hergestellt. Die adäquate und spontan zugängliche Form dieser Wiederherstellung ist der Staatskapitalismus, wie er vor allem in Venezuela sich scheint zu entwickeln. Die Staatlichkeit ist hier nur über das Militär und über den staatlichen Ölkonzern zu sichern, da es letztendlich keine umfassende Massenbewegung gibt  und geben kann.

4. Befestigung von Staatlichkeit in diesem Prozess (die wiederum selbst vom Grundsatz her wiederum von der Schuldeneintreibungspolitik selbst befördert wird) und die Beteiligung von Staatlichkeit in dieser Art von gesellschaftlichem Umbau prägt den Charakter der Außenbeziehungen der einzelnen Länder und einer lateinamerikanischen Integration. Letztere kann nur als staatskapitalistisches Projekt realisiert werden. Die Ideologie dieses Prozesses muss durch den Nord-Süd-Gegensatz (vor allem im Verhältnis zu den USA) als außenpolitisches – integrierendes Element der unterschiedlichen Varianten von Entwicklungswege geprägt sein. Vor diesem Hintergrund wiederum beginnen die Unterschiede und Widersprüche in den nationalen Strategien, wie sie von den Exponenten geprägt werden in der Propaganda zu verschwimmen - Lula, Kirchner, Chavez, Morales erscheinen als Repräsentanten einer Interessengleichheit, einer Einheit, die sich tatsächlich nur in einem scharf umrissenen Feld ausmachen lassen dürfte. Teile der Bewegung folgen diesem propagandistisch sicher tragfähigen Ansatz, scheinen aber der Suggestion neuer Machtpotenziale zu erliegen und die Bezugnahme auf Staatlichkeit gegenüber dem Ausbau des Forumsprozesses zu präferieren.

5. Insbesondere der für die marginalisierten Schichten zugängliche Bezug auf den Nord-Süd-Gegensatz ist schärfer als in den letzten Jahren in generalisierender Form ausgesprochen worden. Die Konstituierung des gemeinsamen Feindes „Norden“ trifft die wirtschaftliche Situation (Ausbeutung der Ressourcen in einer Weise, die nicht mehr durch komparative Vorteile zu erklären oder rechtfertigen ist) und die Lage der breiten Massen, denen selbst Armut im Norden als Reichtum erscheinen muss.

6. Die Vermittlungsglieder zwischen dem lokalen basisdemokratisch orientierten Strukturen, dem staatskapitalistischem Rahmen und der Rolle des Militärs und der als generellen Nord-Süd-Gegensatz reflektierten Konkurrenzsituation sind kaum entwickelt – es sei denn, man betrachtet die Ideologie des Nord-Süd-Gegensatzes als eine solche Vermittlung. Das bedeutet aber auch das sich die Akteure dieses eigenen Entwicklungsweges beständig mit Aufmerksamkeit beobachten und beobachten müssen. Dies macht verständlich, warum die Frage nach dem Verhältnis von Staat, Parteien, Bewegungen und Militär auf dem Forum so intensiv diskutiert wurde und warum die venezolanische Regierung derart massiv ihre Verbundenheit mit den Bewegungen bekundet. Auf der anderen Seite erklärt sich das Misstrauen von Teilen der Bewegung gegenüber staatlichen und Parteipartnern in erheblichem Masse aus den Erfahrungen etwa mit der brasilianischen Regierungspraxis.

Aus dieser Dynamik ausgeschlossen sind offensichtlich weite Teile des Mittelstandes und der FacharbeiterInnenschaft. Sie gehören zu den Opfern der Globalisierung, konnten sich aber nicht von den Fesseln, die ihnen ihre an Globalisierungsprozesse gebundene Lebensweise anlegt, befreien. Dies sind aber die Schichten, die im Falle Venezuelas etwa den Kurs auf die Erschließung innerer Entwicklungsressourcen realisieren muss.  Die Aktivität der bisher marginalisierten Schichten und deren vorrangige Unterstützung (zumindest ihre kulturelle und ideologische Auffassung) schmälert ihr Sozialprestige, ihr politisches Gewicht und ihre Artikulationsfähigkeit. Ihr Status wird in extremem Maße unsicher. Gleichzeitig aber sind ihre eigenen kreativen Potenziale, ihre Bildung und die berufliche Qualität unabdingbar Voraussetzung für das Gelingen eines Staatskapitalistischen Projektes finanzpolitischer, ökonomischer und militärischer Selbstbehauptung.

Wesentliche Teile der Oligarchie hingegen können mit dieser Entwicklung leben, die von Venezuela, Brasilien und Argentinien, evtl. auch Uruguay und von Bolivien in Aussicht genommenen gemeinsamen Wirtschafts- und Infrastrukturprojekte bedeuten vor dem Hintergrund des Ölbooms für die Industrieunternehmen ein gigantisches Geschäft. Die Betonung der militärischen Absicherung gegen Ambitionen der USA sichern dem Militär eine exklusive soziale Stellung und dem Rüstungsunternehmen, vor allem in Brasilien, stabile Geschäfte.

Verlierer und in ihrer Wirkung und Gewicht unberechenbar ist dabei die Zukunft des Agrobusiness  und der Großgrundbesitzer. Die massive Notwendigkeit der Lösung der Land- und Wasserfragen in ökonomischer und sozialer Dimension kann zu einer Zuspitzung der Widersprüche zwischen Staat und Militär auf der einen und Teilen der Agrobusiness auf der anderen Seite führen. Welch politische Konsequenz das hat, hängt z.T. von Intensität und Umfang der Verflechtung innerhalb der Oligarchie selbst ab, davon, inwieweit die mögliche industrielle Belebung kompensatorisch wirkt. Zu einem anderen Teil hängen sie aber auch ab von der Akzeptanz, die der Staat (als starker Staat) in den Unterschichten errichten kann, inwieweit die Militanz der Basisbewegung und die Repression des Staates in Bezug auf die Land- und Wasserfrage zusammenfallen.

Vor diesem Hintergrund eines in sich fragilen Interessen- und Machtgeflechtes, verbunden mit tiefgreifenden kulturellen Differenzierungen wird die Frage nach dem Profil handelnder Personen ein enormes Gewicht haben.

7. Das Zusammentreffen von Wertesystemen und Handlungsmustern aus Gewerkschaftsbewegung, sozialen und religiösen Bewegungen, indigenen Bewegungen, Parteien bürgerlicher, oligarchischer, kommunistischer, trotzkistischer oder sonstiger Tradition, militärischem Selbstverständnis, Bewegungen zur Selbsthilfe, die alle auf ihrer Identität bestehen und bestehen müssen, setzt als Erfolgsbedingung ein hohes Maß an Konsensfähigkeit und Bereitschaft zur Selbstveränderung voraus. Insofern ist der elementaren Bildung sowohl im Sinne der Alphabetisierung wie im Sinne politischer Bildung (als Prozess  der Veränderung politischer Kultur) berechtigt entscheidende Projekt, die in den traditionellen wie auch den neu entstandenen Basisbewegungen betrieben werden.

8. Es stellt sich die Frage, welchen Platz unter den Bedingungen der notwendigen starken regionalen Fokusierung von Aktivitäten und einer hohen politischen Wichtung der Nord-Süd-Gegensätze ein Weltsozialforumsprozeß haben kann. Unstrittig ist seine Bedeutung für die Süd-Süd-Kooperation. Sie scheint sich in die staatliche einzufügen, geht aber darüber hinaus. Weitgehend offen ist hingegen die Frage der alternativen Nord-Süd-Kooperation. Das hohe Gewicht der staatlichen Sicht auf internationale Widersprüche kann Räume für eine alternative Nord-Süd-Kooperation einengen. Was bedeutet also Solidarität im 21. Jahrhundert?

Die Beteuerung,  dass man natürlich nicht die sozialen Bewegungen des Nordens bekämpfen wolle (so Chavez) reicht für eine Strategiebestimmung nicht aus und macht das Dilemma der Bewegung deutlicher sichtbar, als dies von der Bewegung selbst bisher ausgesprochen werden konnte.

Es existiert kein nachvollziehbar gemeinsamer strategischer Ansatz. Mit dem Weltsozialforum sollte ein Raum geschaffen werden, der Wege zur Gemeinsamkeit in ihrer Unterschiedlichkeit diskutierbar machten sollte, ohne Dominanz einer Richtung von vornherein festzuschreiben. Aber während der Prozess noch nicht richtig in Gang gekommen ist, wird er bereits von einigen Akteuren in Frage gestellt – immer wieder wird die Festlegung gemeinsamer Aktionen, handfester Erklärungen etc. eingefordert – so auch jetzt von Chavez.

Betrachtet man nur die Vielfalt der Bewegung in Lateinamerika, ist ein solches Ansinnen schon mit einem hohen Exklusionspotential behaftet. Wahrscheinlich wird man sich schnell auf eine Verurteilung aggressiver Politik der USA verständigen können, Deklarationen zu allem möglichen sind sicher machbar – aber wozu? Dies alles ist schon oft gesagt und wird täglich wieder gesagt werden. In der Forderung, die hier von Chavez aufgegriffen wurde (einer scheinbar einfachen Forderung) liegt in dem speziellen Fall und in der speziellen Situation eines bestenfalls staatskapitalistischen regionalen Integrationskonzeptes der Anspruch auf Unterstützung ohne Fragen unter Akzeptanz unausgesprochener Widersprüche. Die Bewegungen brauchen keine Deklarationen, die große Teile derer, die sie angehen, angehen sollten oder angehen müssten, nicht erreichen.  Sie brauchen einen Mechanismus des Austausches und Lernens über vielfältige Barrieren hinweg – ein Verständnis dessen was sie tun, wo sie Gemeinsamkeiten schaffen, aber auch ausschließen und verletzen.

Die Ebene der Erklärungen, die Ebene der Aktionen und die Ebene der Selbstreflexion und –befragung und Diskussion sind verschiedene Ebenen, die nebeneinander und auch in relativer Selbständigkeit existieren müssen. Die Verbindung zwischen dem neuen deliberativen Raum und den Entscheidungsprozessen sind neu zu bestimmen. Die Linearität von Diskussion-Entscheidung-Aktion, die Vorstellung des Politischen weitgehend prägt, existierte in dieser Form ohnehin nie, wie auch die in dieser Vorstellung intendierten Subjekte in dieser Klarheit selten existierten bzw. existieren. DIE FORDERUNG NACH BESCHLÜSSEN IST DIE FORTSETZUNG EINER SELBSTTÄUSCHUNG NICHT BESTEHENDER HOMOGENITÄT.

Diese Selbsttäuschung ist wieder Ausgangspunkt des Ausschlusses, Vorwand für Repression und Verlagerung von Möglichkeitsfeldern. Dies kann aus bestimmten Situationen heraus nötig sein. – DANN ABER AN EINEM ANDEREN ORT. Dabei ist nicht die Behauptung, ein Raum wie das Sozialforum sei machtfrei – es geht hier darum, dass mit der Macht offen umgegangen wird. Das bedeutet Offenlegung eigenen Interessen, eigener Möglichkeiten und Grenzen. Das ist eine unabdingbare, subjektiv zu erbringende Vorleistung. Diese Offenheit ist strukturell nicht erzwingbar und mit der Forderung nach Beschlüssen tendenziell unmöglich.

9. In Bezug auf den Ausgangspunkt der Überlegungen, das Verhältnis Staat – Parteien – Bewegungen und der lateinamerikanischen Integration, bedeutet dies, dass die Konzeptionsbildung, wie sie jetzt betrieben wurde in einer Sackgasse enden könnte.

Es sind nicht die USA oder die innere Reaktion, die tiefgehende Reformen verhindert haben, es waren die Konstrukteure der Regierung Lula. Das konnte nicht durch die Erweiterung der Handlungsspielräume, durch die vorzeitige Schuldenrückzahlung kompensiert werden.

Das Beschwören der Einheit von Militär und Volk, die „Einbeziehung“ des Volkes in Landesverteidigung und Katastrophenschutz sind ein ähnliches, auf anderer Ebene liegendes Problem.

Konzipiert wird von der „Entscheidung“ her, nicht vom Problem. Das System setzt eine weise Führung voraus. Das wird auch nicht durch lokale basisdemokratische Instrumente kompensiert werden können.